Körperwissen und Musikpraxis in der Frühen Neuzeit (Stand: Anfang 2020)
Im Jahr 1972 veröffentlichte der Kunsthistoriker Michael Baxandall sein Konzept des period eye. Er schlug vor, bei der Analyse von Kunstwerken die kulturelle und historische Konstruktivität des Sehens stärker einzubeziehen. Die musikwissenschaftliche Forschung reagierte nur zögerlich auf den Impuls aus der Nachbardisziplin. Ein Versuch Shai Burstyns aus dem Jahr 1997, das period ear analog zum period eye zu etablieren, blieb ohne große Resonanz. Erst in den 2010er Jahren taucht der Begriff beim Historiker Jan Friedrich Missfelder in dessen Arbeiten zum ‚acoustic turn‘ in der Geschichtswissenschaft wieder auf. Die Beobachtung, dass sinnliche Wahrnehmung historisch variierenden Parametern unterworfen ist, dass Hören, Sehen, Tasten, Riechen und Schmecken damals anders funktionierten als heute, ist keineswegs neu, sondern schwingt in der musikhistorischen Forschung mehr oder weniger unterschwellig mit. Dennoch hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen Disziplinen aber weitgehend außerhalb der Musikwissenschaft ein Forschungszweig entwickelt, der sich unter dem Begriff Sinnen- bzw. Körpergeschichte zusammenfassen lässt. Nicht nur die Sinneswahrnehmung des Menschen, sondern auch kulturelle Praktiken wie das Gedächtnis sind von der jeweiligen Umwelt geformt, also kulturell und historisch bedingt. Wie sehr die Unterschiedlichkeit von Erinnerungstechniken die Kunst und Literatur der Vormoderne prägten, zeigen unter anderem die Arbeiten von Mary Carruthers und Anna Maria Busse Berger. Der Blick auf die Geschichte körperlicher Bewegung und ihrer historischen Konstruktivität verdeutlicht schließlich, dass isolierte Konzepte wie period eye oder period ear womöglich zu kurz greifen, und dass es an der Zeit wäre, ganzheitlich über den period body nachzudenken.
Für viele Musiker*innen ist detailliertes Wissen über ihren Körper eine Selbstverständlichkeit. Ein reflektierter Umgang mit den individuellen körperlichen Voraussetzungen gilt als Grundlage professionellen Musizierens und so haben sich bewegungspädagogische Techniken und physiologische Lerninhalte in den Curricula der meisten Musikausbildungsstätten fest etabliert. In Kursen wie Stimmphysiologie oder Akustik stehen nicht historische Wissensformen, sondern aktuelle naturwissenschaftliche Erkenntnisse im Zentrum des Interesses. Auch das Narrativ von historischer Authentizität bei der Interpretation von Musik der Vergangenheit hat sich verfestigt. Im Zuge des Early-Music-Revival, das sich von einer kleinen Bewegung weniger Enthusiast*innen zu einem bedeutenden Teilbereich des (klassischen) Musiklebens entwickelte, etablierte sich die Vorstellung, dass sich Interpretation von Kompositionen aller Epochen an den intendierten Klangvorstellungen ihrer Zeit orientieren oder ihnen zumindest so nahe wie möglich kommen sollen. Der Nachbau des historischen Instrumentariums, die Aufführung von Kompositionen in den Räumlichkeiten, in denen sie zur Zeit ihrer Entstehung erklungen sein könnten, oder das detailgenaue Nachstellen von Aufführungspraktiken, etwa durch die Rekonstruktion der räumlichen Verteilung von Musiker*innen, erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Und spätestens seit den 1990er Jahren ist die Early-Music-Szene auch Gegenstand der Musikforschung, wobei insbesondere das Konzept von Authentizität heftig diskutiert wird.
Die Gleichzeitigkeit dieser beiden Paradigmen erzeugt eine Aporie, denn das Musizieren von „alter Musik“ mit Körpern von heute ist notwendigerweise anachronistisch. Während sich die Teile von Musikinstrumenten nahezu identisch nachbauen lassen – ein Berner Forschungsprojekt beschäftigte sich in den vergangenen drei Jahren etwa mit der Herstellung von Musiksaiten aus Schafsdarm – sind die Körper von Musiker*innen notwendigerweise modern. Veränderte soziale Normen verhindern zudem gewisse Musikpraktiken vollständig – etwa die Existenz von Kastraten, die das europäische Musikleben fast 200 Jahre lang entscheidend mitprägten.
Die kultur- und medizinhistorische Forschung der vergangenen Jahrzehnte hat sich disziplinübergreifend intensiv mit dem Thema Körperwissen bzw. dem Wissen über den Körper beschäftigt und seine historischen Veränderungen kartiert. Insbesondere das 16. Jahrhundert gilt als Zeit, in der sich das Wissen über den menschlichen Körper rasant veränderte. Ärzte und Chirurgen wie Andreas Vesalius werden heute als Begründer der modernen Anatomie gesehen. Europaweit entstanden im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit anatomische Theater und Museen, die Kenntnisse über die menschliche Physiologie aus einer akademischen Nische ins öffentliche Bewusstsein transferierten. In dieser Entwicklung zeichnet sich die von Michel Foucault beschriebene Neuordnung des Wissens ab, die er für die Zeit um 1600 konstatiert.
Vom Wissen vom Körper, ist das Wissen im Körper, also das implizite Körperwissen (Michael Polanyi), zu unterscheiden – Fähigkeiten, die man etwa durch wiederholtes Ausüben einer Tätigkeit unbewusst erlernt. Auch diese Wissensformen sind keineswegs frei von geschichtlichen Veränderungen. Jedoch ist die Erforschung der Historizität von implizitem Körperwissen in besonderer Weise komplex, da es per definitionem nicht versprachlicht wurde. So gibt es musikalische Phänomene, etwa die Entstehung des Dirigierens, die in weiten Teilen nur auf Umwegen erschlossen werden können. Ebenfalls tief im Bereich des impliziten Wissens dürfte das Phänomen der Improvisation anzusiedeln sein, das in der neueren Forschung zunehmend in den Vordergrund rückt. Beinahe zwangsläufig werden musikalische Lern- und Lehrtechniken Gegenstand musikhistorischer Forschung, die auf mündlicher und ggfs. sogar nonverbaler Tradierung von Erfahrungswissen basieren – Wissensformen, die bislang vor allem in den Nachbardisziplinen Thema waren.
„Körperwissen und Musikpraxis“ fragt nach verschiedenen Formen des musikbezogenen Körperwissens und ihrer sozialen und historischen Konstruktivität, wobei ein breiter Musikbegriff Anwendung findet, der explizit auch das Tanzen als musikalische Praxis definiert. Das Projekt untersucht, wie sich Körperkonzepte in einem Zeitraum zwischen ca. 1500 und ca. 1800 veränderten und wie sich diese Veränderungen auf Musizierpraktiken auswirkten, und wie vormodernes Musizieren ggfs. zeitgenössische Vorstellungen vom menschlichen Körper beeinflusste. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei auf dem 17. und 18. Jahrhundert, der Zeit des Empirismus und der Anfänge naturwissenschaftlicher Forschung in modernem Sinn. Ausgangspunkt der Überlegungen ist einerseits die frühneuzeitliche Musiktheorie – etwa die umfangreichen Studien von Athanasius Kircher oder Marin Mersenne – aber auch die medizinische Literatur der Zeit, in der die Grundlagen eines neuen musikalischen Körperwissens gelegt wurden.