Institut für Musikwissenschaft

Tagungen

Narrating Musicology: Fachgeschichte(n) der Musikwissenschaft

Narrating Musicology

Im November 1996 fand an der Universität Bern ein fachgeschichtliches Kolloquium unter dem Titel «Musikwissenschaft – eine verspätete Disziplin?» statt. Die Ergebnisse wurden im Jahr 2000 in einem gleichnamigen, von Anselm Gerhard herausgegebenen Sammelband dokumentiert. Tagung und Publikation verfolgten den Ansatz, weniger von einzelnen Personen und Institutionen auszugehen. Vielmehr sollte der Blick auf ideengeschichtliche Tendenzen der Musikwissenschaft seit der Gründungsphase Ende des 19. Jahrhunderts auch über den deutschsprachigen Raum hinaus geworfen werden. Dies stellte einen wichtigen Impuls für das vergleichsweise «spät» aufkeimende Interesse an der Vergangenheit des Fachs dar. Das 100-jährige Gründungsjubiläum des Berner Instituts 2021 gibt die Gelegenheit, nach mehr als zwei Jahrzehnten eine Zwischenbilanz zu ziehen: Wo steht die Fachgeschichtsforschung heute? Wie hat das Nachdenken über das Fach die Musikwissenschaft in Forschung und Lehre verändert? Ist Musikwissenschaft (noch immer) eine «verspätete» Disziplin?


Die traditionelle Dreiteilung des Fachs Musikwissenschaft in historische, systematische und anthropologische Herangehensweisen, sowie die Etablierung unabhängiger Nachbardisziplinen wie Musiktheorie und Musikpädagogik prägen auch die fachhistorische Forschung. So entstanden verschiedene, mehr oder weniger isolierte und zum Teil parallel existierende fachhistorische Diskussionen, eben verschiedene Fachgeschichten. Die Konferenz legt nun erstmals und umfassend einen Schwerpunkt auf den inter- und intradisziplinären Dialog. Das Berner Kolloquium vor zwanzig Jahren beleuchtete das Spannungsfeld in der Entwicklung eines akademischen Faches «zwischen Fortschrittsglaube und Modernitätsverweigerung», zwischen internationaler Ausstrahlung und nationalchauvinistischen Tendenzen, die bis in die 1990er Jahre hinein seine Wirkung entfaltete. Doch gelten diese Erkenntnisse heute noch genauso wie damals?


Einen ersten Schwerpunkt bildet die Frage, ob die Offenlegung der jeweils historisch bedingten ideologischen Fallstricke und kulturspezifischen Paradoxien des Faches das Selbstverständnis der Musikwissenschaft verändert hat: Wie wirkmächtig bleiben nationale, soziale und ethnisch konnotierte Faktoren in wissenschaftshistorischen Schwerpunktsetzungen? Die Tagung nimmt die Vielfalt fachhistorischer Erzählungen in den Blick. Sie fragt nach Motivationen und grundlegenden Narrativen verschiedener (regionaler) Musikwissenschaftsgeschichten. Dabei möchte sie den Fokus von der westlichen akademischen Hemisphäre auf globale Musikforschungstraditionen ausweiten.


Ein zweiter Schwerpunkt der Tagung liegt auf der Frage nach dem Zweck von Fachgeschichtsforschung. Welche Wechselwirkungen ergeben sich zwischen disziplinärer Selbstbeobachtung und Betrachtungen der Forschungsgegenstände? Was sind die Gegenstände fachgeschichtlicher Forschung? Zudem sollen die Akteur*innen im Bereich der Fachhistoriographie zum Gegenstand gemacht werden: Wer erzählt Fachgeschichten und mit welcher Motivation? Wie viel Gewicht kommt Institutionen und einzelnen Akteur*innen bei der Konstruktion von Fachgeschichtserzählungen zu? Welche Rolle spielen Fachgeschichten innerhalb der Profil- und Identitätsbildung von Wissenschaftler*innen, Schulen und Denktraditionen? Wie gestaltet sich fachhistorische Forschung von Musikwissenschaftler*innen in Zeiten von Debatten um Digitalen Wandel und Dekolonialisierung?
Seit der Veröffentlichung des ersten Call for Papers zur Tagung im Oktober 2019, der auf ein breites Echo gestossen ist, hat sich in der öffentlichen Debatte und im Fach Musikwissenschaft vieles verändert. Die von den Vereinigten Staaten ausgehenden Proteste gegen offenen und strukturellen Rassismus haben in verschiedenen Bereichen der Disziplin hitzige Debatten entfacht. Die Diskussionen um die «Whiteness» der Musikwissenschaft, um Antisemitismus in der Musiktheorie oder zur Dekolonialisierung in der Musikethnologie verdeutlichen, dass es im Fach akuten Gesprächsbedarf gibt, dem Raum gegeben werden soll.

Programmbuch zur Tagung (Stand 07. September 2021) (PDF, 1.3 MB)